13.12.2008

Wintermorgen

Etwas, das ich von meinen Eltern übernommen habe, als ich meine eigenen Kinder groß gezogen habe war, ihnen an den Abenden vor dem Heiligen Abend Geschichten und Märchen vorzulesen. Der Fernseher blieb dann aus, und wir machten es uns im Kinderzimmer gemütlich. Die Kinder in den Betten und ich auf einem Stuhl.

Eine meiner liebsten Geschichten (total nostalgisch ), die uns mein Vater immer vorlas, ist folgende:



Wintermorgen

von Fritz Gansberg

Die Mutter ging immer schon aus dem Hause, wenn Willi noch schlief. Ganz leise machte sie sich zurecht, um ihren Jungen nicht aufzuwecken. Aber mitunter wachte Willi doch etwas auf. Dann sah er den hellen Schein an der Decke; denn die Kammertür stand offen, und in der Stube brannte schon Licht. Er hörte, wie die Mutter das Kaffeegeschirr hereinbrachte und auf den Tisch setzte, wie sie ihm das Frühstück in Papier einwickelte, wie sie die Hausschuhe beiseite setzte und den Mantel anzog. Dann kam sie wohl noch einmal in die Kammer und lauschte, ob der Junge schlief. Fragte er dann: "Gehst du weg?" so strich sie ihm mit den harten Fingern leise über die Backen und sagte: "Ja, schlaf nur noch! Frau Behrmann wird dich schon wecken." Nun hörte er noch, wie sie die Haustür abschloss, und dann war alles still. Er hörte nur den Wind sausen oder wenn sich etwas im Nachbarhause regte. Und er dachte an seine liebe Mutter und fühlte sich so wohlig müde, dass er bald wieder einschlief, bis die Nachbarin an die Wand klopfte; dann wurde es Zeit.

Als Willi an diesem Morgen aufwachte, hörte er ein feines Klingeln. War das ein Schlitten? Hatte es geschneit? Er guckte unter dem Vorhang in den kleinen Hof. Ei, sieh da, alles lag dick voll Schnee! Und es schneite noch immer ganz toll drauflos! Das konnte er deutlich in der Dunkelheit sehen. Da musste er doch sofort aus dem Bett! Das war ja zu schön!

Kalt war's! Hu, nur schnell das Unterzeug her und die Strümpfe! Aber er wollte gerade seine Hose anziehen, da rüttelte jemand ganz heftig an der Haustür. Willi erschrak so, dass er nicht in die Hosenbeine hinein fand und auf den Bettrand nieder plumpste. Wer wollte da in ihr Haus? Er war ja ganz allein darin! Sollte er sich verstecken? Sollte er unter die Bettdecke kriechen?

Wieder rüttelte jemand, aber viel stärker! Willi bebte das Herz; aber er zog doch schnell die Hose und die Hausschuhe an und ging mit dem Schlüssel an die Haustür.

Vorsichtig öffnete er sie. Hu, ein kalter Wind wehte ihm ins Gesicht! Und Schneeflocken fielen durch das offene Hemd auf seine Brust! Und ganz voll Schnee war die Luft! Er wollte schnell wieder zumachen, da stand auf einmal ein Schutzmann vor ihm!

"Vorwärts, Schnee fegen"! befahl er. - Willi guckte ihn starr an und sagte nur leise: "Meine Mutter ist nicht zu Hause." - "Wo ist sie denn?" fragte der Schutzmann. - "Sie macht Kontore rein." - "Wann kommt sie wieder?" - "Um halb neun." - "Das ist zu spät", sagte der Schutzmann ungeduldig. "Ist sonst niemand zu Hause? Kannst du denn nicht fegen?" Willi schüttelte den Kopf. "Einerlei! Ich komme in einer halben Stunde wieder! Wenn dann nicht die Straße rein ist, muss ich euch aufschreiben!" Damit stapfte er durch den dicken Schnee davon, und der Wind wirbelte Schneeflocken hinter ihm her, als wollte er sagen: "All euer Fegen hilft euch ja doch nichts!"

Willi ging traurig in die Stube zurück. Dass die Mutter Strafe zahlen sollte, machte ihn ganz unglücklich. Ach, wenn er doch bloß größer wäre, dass er schon Schnee fegen könnte! Aber er war ja noch zu klein! Das sagte die Mutter ja selbst jeden Tag zu ihm. Alle Arbeiten nahm sie ihm ab. "Nein", sagte sie immer, "das kannst du noch nicht!" Das war doch zu traurig!

Aber er wollte wenigstens den Besen und die Schaufel vom Hof hereinholen und hinter die Haustür stellen. Dann konnte die Mutter nachher gleich anfangen. Die Schaufel konnte er nicht finden. Als er den Besen hinter der Regentonne hervorholte, oh, da fing der schon ungefähr von selber an zu fegen. Der Schnee flog nur so zur Seite. Ei, dachte Willi, ich versuche es mal! Und er zog sich warm an.

Sieh da, draußen war auch Frau Behrmann schon feste beim Fegen! "Na, Willi, das ist aber recht, dass du der Mutter die Arbeit abnimmst! Nimm doch mal unser Schneebrett! Sieh, so musst du es anfassen, und nun immer einen Streifen nach dem andern beiseite schieben! Wunderschön, wie du das kannst!"

Es ging auch gar nicht schwer; denn der Schnee war noch ganz lose wie weiche Watte, und die Menschen, die den Schnee immer so fest zusammentreten, die waren noch meist zuhause. Aber drüben waren schon ein paar große Jungen und schickten einen Schneeball zu Willi herüber. Patsch! fiel er auf die Straße, und Willi lachte sie aus.

Als Willi mit dem Besen tüchtig nachfegte, kamen schon einzelne Schulkinder. Ei, nun wurde es Zeit! Es ging nur nicht so schnell; denn der Wind trieb immer wieder Schnee in die Ecken hinein. Und Willi fegte, dass ihm die Schweißperlen von der Stirn liefen.

Dann kam auch der Schutzmann wieder. "Na, siehst du wohl, kleiner Mann, ist ja ganz fein geworden!" Und er ging lachend weiter.

Jetzt wurde es aber Zeit zur Schule. Schulkinder kamen schon gar nicht mehr. Oh, nun hatte er Angst, dass er zu spät kam! Schnell trank er seinen Kaffee aus, das Brot steckte er ein und lief fort. Aber die Tür zuzuschließen, das hatte er doch nicht vergessen.

Die Schultür war schon zu. Aber da war noch ein Junge, der zu spät kam. Es war sein Freund Alois Willig. Der ging auch zuerst in die Klasse. "Na, woher kommt ihr denn noch?" sagte der Lehrer. "Ach, Herr Osmer", sagte Alois Willig, "die Elektrische ist steckengeblieben! Wir mussten alle aussteigen und zu Fuß gehen." - "Na, dann macht, dass ihr an euren Platz kommt!" So huschte Willi auch noch gut mit durch.

Das war ein glücklicher Tag. Und als Willi am Abend einschlief, war sein letzter Gedanke: Ach, wenn es doch diese Nacht noch tüchtig schneite! Dann könnte ich ja morgen wieder Schnee fegen! Leider, als er am Morgen unter dem Vorhang durch guckte, sah er Regentropfen an den Fensterscheiben. Und der Schnee war schon wieder ganz weg getaut.

Wie schade, dass er nichts für die Mutter tun konnte! Er sah sich um. Nein, da war gar nichts zu tun; höchstens ein paar Presskohlen heraufzuholen - ja, das konnte er. Aber als er unten im Keller war, guckte ihn ein altes Brett mit seinen Astlöchern an, als wollte es sagen: "Du, Willi, hau mich kurz und klein und leg mich oben auf den Kohlenkasten! Hier unten gefällt mir's schon lange nicht mehr." Und ein paar Zeitungen riefen ihm nach: "Nimm uns doch auch mit! Was sollen wir hier unten in der Kälte liegen?"

So machte Willi an diesem Morgen die ganze Feuerung zurecht. Da war er wieder vergnügt. "Sieh", sagte er, "diese Arbeit können sie mir nicht wieder wegnehmen! Höchstens, wenn der Frühling kommt. Aber bis dahin findet sich vielleicht wieder etwas Neues. - Vielleicht morgen schon."

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